Im Juli 2012 wurde ich pensioniert. Seitdem habe ich kein aktuelles Lehrwerk mehr in die Hand genommen. Sollte sich etwas geändert haben bei der Gestaltung von Spanisch-Lehrwerken, so würde mich das außerordentlich freuen. Daran zu glauben, vermag ich nicht. Hier meine Thesen, von denen ich zutiefst hoffe, dass sie überholt sind.
Kritik
- Die meisten Lehrwerke wollen lebensnahes Vokabular vermitteln. Das tun sie in den seltensten Fällen. Ein Beispiel ist, wenn in den ersten Lektionen das Vokabular zur Frage nach einer Sehenswürdigkeit angeboten wird. Im besten Fall formuliert der beflissene Tourist sich eine perfekte Frage vor, stellt sie einem zufällig vorbeigehenden Spanier, um sodann erstaunt festzustellen: Der Spanier kennt die Musterantwort aus Lektion 5 nicht! Der Einheimische plappert nämlich irgendetwas, und der Tourist versteht nur, dass es sich vermutlich um Spanisch handelt, woraufhin er sich mit der eingeschliffenen Dankesformel verabschiedet und in die Richtung davontrottet, die der Zeigefinger des freundlichen Zeitgenossen ihm gedeutet hat.
- Die Lehrwerke versprechen gerne, dass der Lernende von Anfang an zum Sprechen kommt. Wie soll das gehen? Nachplappern ist gut, um die Aussprache zu üben, freies Sprechen ist das nicht. Selbst wenn Gesprächssituationen eingeschliffen werden (s.o.) ist das meist sinnlos, Ausnahme: Bitte, Danke, Entschuldigung.
- Der Aufbau des Buches folgt den Sprechintentionen. Meist ist diese Aussage Unsinn. Der Aufbau des Lehrwerks folgt der Grammatik und tut so, als ob der Lernende Linguist werden sollte. Die Technik des Spracherwerbs folgt damit strikt der im Mittelalter bei Mönchen bewährten Methode des Lateinunterrichts, allerdings unter zu Hilfenahme modern anmutender Elemente.
- Die meisten Lehrewerke sind öde und leben nur davon, dass der Lernende motiviert ist, die Sprache zu erlernen. Die bunten Bildchen und die moderne Aufmachung machen die angebotenen Textfetzen keinesfalls interessant. Dass keine spannenden Texte angeboten werden können, liegt auf der Hand, wenn die Grammatik der Leitfaden ist und man die Schüler für so dumm hält, dass sie keine Analogien zu ihrer Muttersprache herstellen können. Das Problem, wie man einen interessanten Lehrbuchtext unter Vermeidung schwieriger grammatikalischer Phänomene formuliert, ist kaum zu lösen.
- Die Sprecher der Audiotexte sind oft ungeeignet. In einem Lehrwerk sprach in einer Lektion eine junge Frau mit einem grässlichen deutschen Akzent – und das zum Beginn des Spracherwerbs! Im Fortgeschrittenenunterricht ist das gut, denn dann ist die Aussprache gefestigt. Ein bewährtes Lehrwerk meiner beruflichen Anfangszeit hatte sogar für alle Texte einen deutschen Sprecher! Dies zeigt meines Erachtens, dass der Autor des Lehrwerks den Wert des Audiomaterials für gering erachtet.
Erwartungen an ein Lehrwerk für den Anfängerunterricht
- Das Audiomaterial muss von Muttersprachlern besprochen sein, die nicht länger als ein Jahr in Deutschland wohnen. Jeder Text muss auch gesprochen vorliegen.
- Das Textmaterial muss zwei Dinge bieten: Kurze Texte zum Auswendiglernen und längere Texte, die von Anfang an keine Rücksicht auf grammatikalische Phänomene nehmen und interessant sind. Die Arbeit des Lehrers wäre es dann, diese Texte so oft hören zu lassen, bis sie von jedem Lernenden einwandfrei verstanden werden.
- Der Erwerb eines passiven Wortschatzes muss im Anfängerunterricht absoluten Vorrang haben; zur Auflockerung und Festigung können durchaus Dialoge usw. eingeübt werden. Je weiter der Unterricht fortschreitet, um so mehr muss die Anwendung des Wortschatzes in den Fokus des Unterrichts gerückt werden.
- Ein Lehrwerk muss immer Adressatengerecht aufgebaut sein. Beispiel: Schülern einer 13. Klasse des Gymnasiums kann eine korrekte Rechtschreibung abverlangt werden. Für einen Touristen ist, wie bereits geschildert, ihre aktive Beherrschung meist nicht erforderlich und reine Grammatikübungen sind meines Erachtens nur in Ausnahmefällen sinnvoll.